Aus siebenbürgischen Briefmappen

Einige Aufschlüsse über die neuere Banater Literatur

 

(nach 1950)

 

von Joachim Wittstock


Hermannstadt
Auf drei Momente in der neueren Geschichte Banatschwäbischer und - wie man sehen wird - Berglanddeutscher Literatur möchten wir im Folgenden unsere Aufmerksamkeit konzentrieren und zwar jeweils anhand eines für den betreffenden Zeitabschnitt kennzeichenden Vertreters. 1. Zunächst auf die sozialutopische Auffassung von Literatur, die - mit ihrem kämpferischen Gestus und dem in ideologischen Schulungen angelernten Optimismus - während der fünfziger und sechziger Jahre zum Regelwerk des sogenannten volksdemokratischen" Regimes und seiner Kulturpolitik gehörte. Wir verknüpfen unsere Anmerkungen mit dem Autorennamen Anton Breitenhofer (1912 - 1989).2. Weiterhin sei an die allmähliche Befreiung von den Äußerlichkeiten doktrinärer Kunstpraxis und an die behutsam vollzogene Ausweitung literarischer Thematik auf unschabloniertes Empfinden erinnert, an diesen Qualitätsgewinn in den sechziger und siebziger Jahren. In den Mittelpunkt des skizzenhaften Rückblicks stellen wir die Dichterin Irene Mokka (1915 -1973). 3. Schließlich wollen wir auf die Perspektivelosigkeit und den Ausdruck von Pessimismus und Resignation hinweisen, der sich in manchen Kreisen rumäniendeutscher Bevölkerung während der achtziger Jahre kundtat. Und da gleiten unwillkürlich die Gesichtszüge von Rolf Bossert (1952 - 1986) in unser Blickfeld.1. Autor XY ließ den ihm befreundeten Autor NN wissen, er glaube, dieser habe sich durch Text und Gespräch auf ein Glatteis begeben, auf dem Dich diese Leute haben wollten, um Dich in ihre Hände zu bekommen. Ich fürchte, Du hast zwischen Vorsicht und Zivilcourage nicht den richtigen Ausgleich gefunden. Ich kann Dir nicht verschweigen, dass ich mir ernste Sorgen um Dich mache, und will Dich zur Vorsicht und Zurückhaltung im Umgang mit allen diesen Leuten mahnen". Einige Jahre später brachte Autor NN in einem streng vertraulich" bezeichneten Brief an Autor XY das Faktum zur Sprache, er - Autor NN - habe dazu beitragen können, ihm - dem Autor XY - zur Freiheit zu verhelfen, und zwar in einem langen Gespräch, das ich zur Zeit Deiner Verhaftung in meiner Wohnung mit [Emmerich] Stoffel führte". Beide Briefstellen, keineswegs aus einem Kriminalroman gegriffen, sondern höchst authentisch, werfen bezeichnende Lichter auf das literarische Leben während der Ära Gheorghe Gheorghiu-Dej. Man musste als Autor sehr genau überlegen, was man sagte und ob man nicht die recht eng gezogenen Grenzen der Meinungsäußerung überschritt. Man musste reiflich bedenken, wem man etwas Belangvolleres anvertraute, und tat gut, gegebenenfalls Warnungen wohlmeinender Personen nicht in den Wind zu schlagen. Dies zum einen. Zum anderen trat nicht selten der Fall ein, dass man sich als Schreibender, nach Meinung verschiedener Aufpasser und Zwischenträger, über die Grenzen des ideologisch Zulässigen hinweggesetzt hatte, und dann gab es oft keinen anderen Ausweg, als an einen Funktionsträger des volksdemokratischen" Regimes zu appellieren und ihn um Beistand zu ersuchen. Es fiel der Name Emmerich Stoffel, und tatsächlich hatte dieser Überzeugungs - Kommunist, der, nach innen- und außenpolitischen Missionen, zum Chefredakteur der Zeitschrift
Neue Literatur ernannt worden war, genügend Rückhalt, um sich für verschiedene in Misskredit geratene Leute einzusetzen, und er scheute - wie von diesem oder jenem bezeugt wurde - solche Interventionen nicht, u. a. um XY, einen hier ungenannten Autor, aus Untersuchungshaft zu befreien. In ähnlicher Rolle sah man auch Anton Breitenhofer. Er war ja im Staatsaufbau an wichtiger Stelle und konnte, so er es als zweckmäßig erachtete, seinen Einfluss geltend machen. Mitte der siebziger Jahre war er - laut Eduard Eisenburgers Evidenzen (im Band Heimatbilder) - Mitglied im ZK der RKP, Stellvertretender Vorsitzender des Rates der Werktätigen deutscher Nationalität, Mitglied im Landesrat der Front der Sozialistischen Einheit in der SR Rumänien, Korrespondierendes Mitglied der Akademie für politische und soziale Wissenschaften, Held der Sozialistischen Arbeit und Träger der Goldmedaille Hammer und Sichel". (Eduard Eisenburger: Heimatbilder. Bekanntes und weniger Bekanntes über die Rumäniendeutschen. Cluj-Napoca: Dacia Verlag, 1976, S. 341 -353.) Hinzu kommt seine Tätigkeit im Rahmen des Deutschen Antifaschistischen Komitees, die 1949 seine Übersiedlung von Reschitza nach Bukarest veranlasst hatte, sowie als Abgeordneter der Großen Nationalversammlung.Lange Zeit hindurch (1954 - 1976) war er Chefredakteur der Tageszeitung Neuer Weg und als solcher in vielen Belangen, die seine Leserschaft betrafen, ansprechbar - nicht zuletzt in Passangelegenheiten, die zu regeln es dazumal wahrlich titanischer Anstrengungen bedurfte. Er war entgegenkommend, hielt sich mitunter jedoch vollends zurück, und so - um ein Beispiel zu geben - erscheint sein Name nicht in der Dokumentation des 1959 in Kronstadt geführten Schriftsteller - Prozesses, nicht also im Buch Worte als Gefahr und Gefährdung. Fünf deutsche Schriftsteller vor Gericht (hrsg. von Peter Motzan und Stefan Sienerth. München: Verlag Südostdeutsches Kulturwerk, 1993).Der Prosaautor Erwin Wittstock (1899 - 1962) hatte zu Anton Breitenhofer ein kollegiales Verhältnis. Es reichte über die Förderungen hinaus, die der Funktionär in gesellschaftlich - volklich -kulturellen Dingen erwirken konnte, war also nicht nur geschäftlich - dienstlicher Natur, sondern etwas mehr, im Sinne persönlicher Aussprache, die freilich beträchtliche Unterschiede weltanschaulicher Natur zu überbrücken hatte. Dank solchen auf die Person und weniger auf die Institution zugeschnittenen Meinungsaustauschs erschöpfte sich die Beziehung auch nicht in der Bewältigung persönlicher Schwierigkeiten, also etwa in der Tatsache, dass Breitenhofer half, Angelegenheiten günstig zu erledigen, die das schriftstellerisches Fortkommen Wittstocks und sein gesundheitliches Befinden betrafen. Dennoch will damit noch nicht behauptet werden, die Kontakte zwischen ihnen hätten zu einem stets anspruchsvollen, beiderseits ergiebigen Dialog über das schriftstellerische Metier geführt - biographisch begründbare Differenzen verhinderten einen tieferschürfenden Dialog. Immerhin gab der dreizehn Jahre jüngere Breitenhofer zu Protokoll, es sei gewissermaßen" Wittstock gewesen, der ihn ermutigte, über das Leben der Arbeiter zu schreiben. An einem Winterabend in Predeal, während draußen der Sturm heulte, sprachen wir über die Lebensweise des Industriearbeiters zum Unterschied von der des Bauern und des Kleinbürgers, wobei ich einiges aus meiner Heimatstadt Reschitza erzählte. Wittstock unterbrach mich und sagte: ,Schreiben Sie doch darüber. Diese Thematik ist in unserer Literatur sehr selten. Wenn es Ihnen gelingen würde, so zu schreiben, wie Sie es eben erzählt haben, leisten Sie bestimmt etwas Gutes`." (Anton Breitenhofer:
Zeitbilder. Reiseaufzeichnungen und Reportagen aus Europa und Asien. Bukarest: Kriterion Verlag, 1979, S. 256.)Einen dokumentarischen Beleg dieses Erinnerungsbilds haben wir in einem Brief, den Breitenhofer am 11. Januar 1954 an Wittstock richtete: Ich möchte an die mit Ihnen kürzlich geführte Aussprache über Fragen der Literatur anknüpfen und Ihnen vor allem für Ihre Hinweise danken, die mir für mein eigenes literarisches Schaffen von großem Nutzen sein werden." Die weitere Korrespondenz zwischen Breitenhofer und Wittstock lässt Existenzielles in den Vordergrund treten, das heißt die materielle und geistige Existenz des Schriftstellers, der unter ideologisch straffen Bedingungen stets von Neuem entscheiden musste, ob ein Mitwirken an der volksdemokratischen" Kulturpolitik mit den eigenen Überzeugungen vereinbar war. Solches galt gleichermaßen den Banatern wie den Siebenbürgern und Bukarest - Deutschen, und es kam deshalb die Frage nach einem gemeinsamen Nenner der geistigen Bestrebungen auf. Dieser Nenner der Gemeinsamkeit ließ sich - außer im künstlerisch gesetzten Wort - wohl am ehesten in den Zielen der Pädagogik und Erwachsenenbildung finden, wenn auch die diesbezüglichen Begriffe und Vorstellungen bei den einzelnen Lehrern, Schriftstellern, Journalisten durchaus unterschiedlich ausgeprägt sein konnten. Hob Anton Breitenhofer eine verantwortungsvolle Erziehungsarbeit" in den Reihen der deutschen Bevölkerung in der Rumänischen Volksrepublik hervor (in einem Brief an Wittstock, 3. November 1954), so meinte er wohl nicht ganz dasselbe wie Wittstock, der von der Erziehung der Menschen unseres Lebensbezirkes zu Rechtschaffenheit, Heimatliebe und gutem Willen" sprach (Brief an Breitenhofer, 12. Januar 1957). Und doch konnten Intellektuelle älterer und jüngerer Generationen sich im didaktischen Bereich (die Erziehung zum Verständnis des literarischen Ausdrucks inbegriffen) ohne Preisgabe eigener Anschauungen entgegenkommen. 2. In den Lebensdaten" der Irene Mokka, beigegeben ihrem Band in der Reihe Die schönsten Gedichte", lesen wir bei der Jahresangabe 1955: Beginn einer fruchtbaren literarischen Korrespondenz mit dem Dichter und Komponisten Wolf Aichelburg, der zahlreiche ihrer Gedichte vertonte." (Irene Mokka:
Gedichte. Geleitwort von Alfred Kittner. Bukarest: Albatros Verlag, 1977, S. 20 - 21.) Ohne Einblick in diesen Briefwechsel können wir vermuten (allerdings im Bewusstsein, wie wenig derartiges Spekulieren zählt), die Verse der Temeswarer Schriftstellerin seien von dem Hermannstädter Poeten Wolf von Aichelburg (1912 - 1994) voller Wohlwollen, mitunter gar allzu schonend beurteilt worden. Gewöhnlich etwas strenger im Urteil war der ebenfalls in Hermannstadt ansässige Germanist Harald Krasser (1906 - 1981), dem um die Jahreswende 1962 / 63 ein Typoskript von Irene Mokka zur Begutachtung vorlag.
Wir möchten den Kommentar Krassers und die schriftliche Reaktion der Dichterin ausgiebig zitieren, vorher allerdings einiges zu den Gegebenheiten anmerken, in die jene längeren brieflichen Aussagen eingebettet sind. Aus allerhand mit dem Pseudonym Grete Gross gezeichneten Zweit- und Drittrangigkeiten, hinter denen wir mitunter die zeittypischen Koordinaten des sozialen Auftrags" volksdemokratischer" Prägung erkennen, dokumentiert auf nicht wenigen Prosablättern der zweibändigen Werkausgabe (Irene Mokka: Das Schlüsselwort. Bd. I - II. Hrsg. von Helge Hof. Bukarest: Kriterion Verlag, 1985), fand Irene Mokka, geborene Albert, verwitwete Fassel, nach und nach zu einem persönlicher geprägten Ausdruck und zwar in dem Maß, in dem sie sich auf Beobachtung und Aussage intimerer Bereiche einstellte bzw. einstellen durfte, denn Innenleben, subjektive Schau waren nach und nach als mit dem offiziellen literarischen Konzept vereinbar erklärt worden. Ihr Dichten, nunmehr guten Gewissens als Zeugnis künstlerischer Sensibilität verstanden, fand zunehmend Anklang, auch in Siebenbürgen. Den Kontakt zu Harald Krasser hatte nicht sie selbst, sondern ihr Gatte, der Sänger Hans Mokka (geb. 1912) hergestellt, der auch die Korrespondenz mit Krasser unterhielt. (Briefschaften aus den Jahren 1960 - 1975, also annähernd bis zur 1976 erfolgten Emigration Krassers, sind in dem von mir verwahrten Hermannstädter Teilnachlass des Germanisten vorhanden, darunter die im Folgenden angeführten beiden Schreiben. Unsere Aufzeichnungen können übrigens als Ergänzung eines eigenen Aufsatzes gesehen werden:

Porträtskizze eines Rezensenten. Zum handschriftlichen Nachlass von Harald Krasser. In: Neue Literatur, 39. Jg., 1988, Heft 7, S. 72 - 75.)Am 18. Januar 1963 schrieb Harald Krasser nach Temeswar u. a.: [...] Ich bedauere sehr, dass wir uns nicht mündlich, die Gedichte vor unsern Augen, darüber aussprechen können. Das wäre die für Sie fruchtbarste und unmissverständlichste Weise, Ihnen zu sagen, was ich zu Ihren Gedichten zu bemerken habe. So musste ich zu der Methode greifen, die ich seit jeher bei der Durchsicht von Gedichten anwandte: eben auf das betreffende Blatt neben und unter das Gedicht meine Bemerkungen zu schreiben in der Hoffnung, dass sie ohne mündliche Erläuterungen verstanden werden. Ich bitte Sie auch, die Unverblümtheit des Tones mir zugutezuhalten, in dem diese schlagwortartigen Bemerkungen abgefasst sind. Es sind eben spontane, unter dem augenblicklichen Eindruck hingeworfene Bemerkungen, die aber - nach meiner Erfahrung - für den Autor oft förderlicher sein können als lange Exkurse. Lassen Sie mich auch gleich aussprechen, dass ich meinen Urteilen
keine absolute Gültigkeit beimesse, dass zudem während der letzten Monate meine kritische Empfänglichkeit für Lyrisches - wie ich zu meinem Bedauern feststellen musste - nicht ganz auf der Höhe war. Ich glaube, trotzdem einiges angemerkt zu haben, was Ihnen von Nutzen sein kann. Im Übrigen wäre es mir nicht uninteressant gewesen, die Chronologie der Entstehung dieser Gedichte zu kennen.Sie sehen, dass ich unter eine ganze Reihe von Gedichten das ,Ja` meiner Zustimmung geschrieben habe oder mit dem Strich rechts oben mein Einverständnis zum Ausdruck gebracht habe. Ich glaube, am stärksten sind Sie dort, wo Sie mit sparsamen Worten und sicheren Strichen eine Impression aus der sichtbaren Welt festhalten. Ihre Gefahr ist es, Gedachtem statt Gedichtetem Einlass in Ihre Verse zu gewähren und - im Sprachlichen - vorgeprägte Formeln und Formen anderer, übermächtig auf Sie einwirkender Dichter zu übernehmen. So klingt manchmal Rilke in peinlicher Weise durch. Machen Sie sich frei davon. Ringen Sie sich durch zu Ihrer eigenen Dichtersprache. Hüten Sie sich aber gleichzeitig davor, gewissen Wörtern und Wendungen, für die Sie eine Vorliebe haben, manieristische Vorrechte einzuräumen. Man hat eine Schwäche für sie, sucht sie immer wieder anzubringen, auch wo dazu keine zwingende Notwendigkeit besteht (und im großen Gedicht hat jedes Wort und jede Wendung zwingende Notwendigkeit!). Mir erscheint nach dieser Richtung gefährlich Ihre Vorliebe für Adjektive im Komparativ - ich glaube, sie kommt auch von Rilke her -, für Imperative, für die direkte Anrede an lebende und leblose Dinge, für die Wörter ,wagen` [...], ,lenzen` [...], ,Aufgesang` [...] u. a. Verstehen Sie mich recht: ich sage nicht, dass die angeführten Stilmittel und Wörter dort immer falsch am Platze sind, wo sie bei Ihnen stehen. Aber hören Sie einmal auf das oben Gesagte hin Ihre Gedichte durch und beschneiden Sie Manieristisches dort, wo Sie es feststellen. Ich bin überzeugt, dass Sie dazu die nötige Selbstkritik und -kontrolle aufbringen.Noch etwas: es ist mir aufgefallen, dass bei Ihnen oft die Schlussstrophe die schwächste ist. (Das ist mir insoweit sympathisch, als mir Gedichte unleidlich sind, die auf einen Knalleffekt am Ende hin gebaut sind.) Ist es ein Nachlassen des schöpferischen Impulses, der inneren Spannung, vielleicht auch manchmal eine Unsicherheit darin, worauf Sie mit dem Gedicht eigentlich hinauswollen? Manche Ihrer Gedichte versickern, andere bringen eine krampfhafte Schlusswendung, die nicht hingehört und in einen falschen Ton das Gedicht ausschwingen lässt. Nehmen Sie sich also der Gedichtausgänge besonders an.

Da sehe ich, dass kritische Beanstandungen und Mahnungen überhandnehmen. Das darf und soll Sie nicht einschüchtern. Diese sind ja das für Sie Wichtige und Förderliche. Ebenso sollen gehäufte Bemerkungen zu einigen Gedichten Sie nicht veranlassen, sie zu verwerfen, sondern es [vielmehr: sie] mit wacheren Sinnen wieder vorzunehmen. Oft sind die missglückten Gedichte die interessanteren, gerade weil man an einer größeren und schwereren Aufgabe gescheitert ist. Ich empfehle Ihnen also, sobald Sie sich mit meinen Bemerkungen auseinandergesetzt haben und sich, soweit Sie ihnen zustimmen konnten, zu Verbesserungen und Überarbeitungen haben anregen lassen, den Band für den Verlag zusammenzustellen, wobei es auch gut sein wird, Anordnung und Reihenfolge der Gedichte zu überlegen. Es ist nicht unwesentlich, in welcher Reihenfolge sie dem Leser entgegentreten. Auch ihre Zusammenfassung in Untergruppen wäre zu überlegen. [...]"Der Antwortbrief wurde von Irene Mokka am 26. Januar 1963 geschrieben. [...] Ich muss gestehen: ich habe Ihren Brief mit den durchgesehenen Gedichten nicht ohne Herzklopfen geöffnet. Ihrem Urteil voll vertrauend, hätte ich auch ein Todesurteil der Sachen hinnehmen müssen. Nun, es ist nicht so schlimm ausgefallen!Jetzt erst konnte ich überschauen, wie viel Arbeit ich Ihnen aufgebürdet habe. Ich fühle mich sehr in Ihrer Schuld. Sie haben sich meiner Arbeiten mit so viel ehrlicher Hilfsbereitschaft angenommen. Wie soll ich Ihnen danken? Und nicht allein für all die Arbeit, sondern auch für die Art der Vermittlung des Ergebnisses. Jedes Wort in Ihrem Brief ist wohlgemeinter Hinweis, und wo immer die Kritik den unvermeidlichen Stachel zu tragen schien, wussten Sie gleich mit einer aufmunternden Wendung zu glätten. Dennoch hatte ich nie das Empfinden eines mitleidigen Schonen-Wollens. Zu allen Ihren Bemerkungen kann ich nur ,Ja` sagen. Und dies ohne Niedergeschlagenheit oder Entmutigung. Mit Ihrer Hilfe sehe ich alle Fehler ein. Ich konnte mich bei der Durchsicht Ihrer Bemerkungen eines peinlichen Gefühls nicht erwehren, Ihnen solches vorgelegt zu haben. Wie recht haben Sie vor allem mit Ihrem Hinweis auf ,Gedachtes` statt ,Gedichtetem`, auf manieristische Wendungen, auf meine Vorliebe für Imperative. Wo Sie mir [Rainer Maria] Rilke, [Rudolf] Binding u. a. nachwiesen, da wurde ich ehrlich betroffen. Mit welcher Eindringlichkeit müssen sich solche Worte der Großen im Unterbewusstsein verwurzeln, da ich beide Dichter in den letzten Jahren kaum gelesen habe. Auch Ihrer Meinung zu den Schlussstrophen muss ich voll beistimmen. Ich weiß wohl immer, was ich sagen will, es geht mir nur um das zu Sagende. Dennoch! Der ,dichterische Atem`, die Gestaltungskraft reichen eben nicht aus. Ob mir zu all der Einsicht nun auch die Gabe wird, [es] besser zu machen - ich weiß es noch nicht. An meiner Bemühung soll es nicht fehlen. Der Staatsverlag liegt noch, glaube ich, bei so viel Missglücktem, in weiter Ferne. Die Chronologie der Entstehung wäre Ihnen nicht uninteressant gewesen? Nun, ich habe aus 2 Abschnitten Gedichte ausgewählt, einige in der Eile hinzugefügt. Manche Verworrenheit ist durch Aufgepfropftes entstanden. Ich hätte manches erklären - natürlich nicht entschuldigen - können. Es bleibt mir vorerst nichts anderes [übrig], als Ihnen für Ihre Arbeit und Ihre freundschaftliche Hilfe ein ganz schlichtes, aber umso innigeres ,Danke` zu sagen. [...]"Zehn Jahre später ist Irene Mokka gestorben (am 12. Februar 1973), überraschend für ihre Umwelt, vorzeitig mit Blick auf ihr Alter (sie stand im 58. Lebensjahr). Hans Mokka schrieb am 19. Februar 1973, wenige Tage nach ihrem Ende, an Krasser, dieser habe eine ernste Verehrerin und Freundin Ihres Wissens" verloren. Das Begräbnis, fügte er hinzu, war das eines Monarchen, eine unübersehbare Trauergemeinde und vier Redner, die den Menschen und Dichter würdigten. Ich wusste gar nicht, dass ich plötzlich eine so berühmte Frau verlor. Merkwürdig, dass der Tod, ganz gegen Irenes Willen, diese Wirkung auslöste. Sollte das Bescheidene und Ernste noch solch eine Wirkung auslösen? Dann wäre es gut."3. In einer Erzählung - einer 1988 erstmals veröffentlichten Märchennovelle",
Peter Gottliebs merkwürdige Reise betitelt - deutete ich eine mythische, also unpolitische, zumindest nicht vorrangig politische Erklärung des Freitods an, der einen Dichter betraf, bei dem ich an Rolf Bossert und sein Schicksal gedacht hatte. Der Nachtmahr, der gespenstische Alb, das heißt die Personifikation jener düsteren Empfindungen und schreckerregenden Gedankenbilder, die uns aus sogenannten Albträumen bekannt sind, haben dem in der Erzählung erwähnten Schriftsteller so zugesetzt, dass er seinem Leben ein Ende bereitet. Eine Episode der Märchennovelle" spielt sich in Frankfurt ab, eben dort, wo Rolf Bossert starb. Im Verlauf der Schilderung gibt es diesen Passus: War es nicht der Nachtmahr gewesen, der hier im Ort einen aus südöstlichen Breiten stammenden Dichter so behelligt hatte, dass dieser sich aus dem hochgelegenen Fenster der Wohnung in den Hof hinabstürzte und zu Tode fiel?" (Spiegelsaal. Skizzen, Erzählungen. Bukarest: Kriterion Verlag, 1994, S. 184.)Rolf Bosserts Selbstmord allein politisch zu motivieren, diese Verzweiflungstat unmittelbar aus den Auswüchsen eines tyrannischen Regimes abzuleiten, hat mich nie recht befriedigen können, obwohl eine ganze Reihe von Fakten eine solche Interpretation stützt. Politik im affirmativen, mehr noch im abwehrenden Sinn spielt in seinem Leben und Sterben zweifellos eine bedeutende Rolle, und doch ist noch an viele andere Umstände existenzieller Art zu denken, will man sich einen Reim auf den vorzeitigen Abgang dieses Poeten machen. (Über die politische Komponente seines Todes wie auch über das Ableben des ebenfalls durch Selbstmord geendeten Roland Kirsch - geb. 1960, gest. 1989 - habe ich, ohne die gesellschaftlichen Begründungen zu sehr zu betonen, in einem Aufsatz einiges angemerkt: Die Emigration nach innen und andere Ortsveränderungen. In: Neue Literatur, Jg. 41 - 42, 1990 - 1991, Nr. 7 - 8, S. 108, 114 - 115.)Der nach Rolf Bosserts Tod in Berlin erschienene Gedichtband

Auf der Milchstraße wieder kein Licht (eingeleitet von Guntram Vesper. Nachwort von Gerhardt Csejka. Rotbuch Verlag, 1986) wurde mir von Gudrun Bossert, von der jäh zur Witwe gewordenen Ehefrau, zugeschickt. Am 5. Februar 1987 schrieb ich ihr:[...] In wenigen Tagen wird sich ein Jahr erfüllen, seit Ihr Mann aus dem Leben schied. Erlauben Sie, dass ich einige Zeilen an Sie richte, die von der Erinnerung an ihn eingegeben sind.Seine Physiognomie hat sich meinem Gedächtnis deutlich eingeprägt, vermutlich, weil ich ihn nicht häufig sah und er für mein Auge kaum durch alltägliche Begegnung an ursprünglicher Individualität verlor. Ein häufigerer Umgang hätte freilich eine tiefere Kenntnis seines Wesens ermöglicht, zu der ich es nicht gebracht habe. Unsere Begegnungen waren sämtlich von literarischen Veranstaltungen verursacht worden, sie beschränkten sich auf kurze oder längerwährende Gespräche vor und nach Lesungen oder Kolloquien. Mit Entschiedenheit und zwanglos, sowohl im kleinen Kreis als auch vor Publikum, trug er seine Meinungen vor. Es ließ sich dabei leicht feststellen, dass ihn das Feierliche und Hochtrabende störte; seine Stärke lag weniger im Begrifflichen als im Gegenständlichen; das Volkstümliche in unscharfer Einstellung, wie es sich gelegentlich auch auf den Mundartdichtertreffen produzierte, missfiel ihm - und doch kam er zu solchen Treffen, auf der Suche nach lohnender Ansprache und Mitteilung. Auf Ansprache und Mitteilung, auf Rede und Gegenrede war er ausgerichtet, auf die oft flüchtigen, trügerischen Voraussetzungen des geschriebenen Wortes. In dieser Hinsicht unterschied ich mich von ihm: selbst keine parlamentarische Natur und im Grunde nicht dialogisch veranlagt, war die Wortmenge, die mir für ein Gespräch zu Gebot stand, mitunter schon verbraucht, wenn er noch bei den Präliminarien verweilte. Unter solchen Umständen pflegte ich nicht viel zu sagen, doch habe ich mit Vergnügen zugehört, wenn er etwas erörterte, eine Situation kennzeichnete, eine Erfahrung schilderte. Dann schien er Humor zu haben, wie solcher auch aus mancher Gedichtzeile aufschimmert. Allerdings sah ich auch, dass er mit sich selbst im Unfrieden lebte. Das mochte eine Triebkraft seines Dichtens sein, für ihn daher notwendig, aber es gefährdete sein inneres Gleichgewicht und hat ihn schließlich aus diesem gedrängt.Er war - Sie entsinnen sich dessen, Sie sind dabeigewesen - kurz vor der Ausreise zu meiner Lesung ins Friedrich -Schiller - Kulturhaus gekommen, ernst, erregt, mit etwas flackerndem Blick, im langen dunklen Mantel und mit seinem rötlichen Bart ein wenig an Rübezahl erinnernd, wissend, es gehe um wichtige Entscheidungen in seinem Leben.All dies ungemein deutlich vor mir zu sehen, hätte es einer erneuten Lektüre seiner Gedichte nicht bedurft. Und doch haben sie zu dem Bild, das ich mir von ihm im Lauf von Jahren machen konnte, bezeichnende Striche hinzugefügt. Dass Sie dies vermittelt haben, die in seiner Nähe eine stille Vermittlerin war, im Zusammenleben mit ihm sicher vieler Zuneigung fähig und mit Langmut ausgerüstet, verdient meinen herzlichen Dank. Seien Sie von diesem und meiner Teilnahme versichert [...]."