Von Wien nach Orawitza:

Versuch eines Brückenschlags

von Renate Lichtfuss
Innsbruck

In Wien, der „Völkermühle" der alten Monarchie, bin ich aufgewachsen und habe selbst in den schweren Kriegs- und Nachkriegsjahren immer wieder gespürt, wieviel Bereicherndes über die Grenzen vor allem aus Ost und Süd in unsere österreichische Welt hereinkam. So war es vielleicht kein Zufall, daß sich mein Lebensweg mit dem eines Mannes verband, der 1944 als Flüchtling in unser Land gekommen war und der bei allem Engagement für diese neue Heimat der alten unverbrüchlich die Treue hielt. Und diese alte Heimat war das Temescher Banat, waren Orawitza und seine Landschaft bis hinunter zur Donau und dem Eisernen Tor.

Sobald es möglich war, einiger-maßen unbehindert hinzufahren, lernte ich dann dieses Land und seine Menschen kennen. Und schon beim ersten Besuch - dem im Lauf der Jahre viele weitere folgten und auch in Zukunft folgen werden - erlebte ich staunend, wie sehr die österreichische Lebensart hier nach wie vor in der Sprache wie in den Sitten, in den Häusern wie in der Kirche lebendig war: „Küss` die Hand" wird ebenso selbstverständlich gegrüßt wie „Kezét csókolom" und „Sãrut mâna", und man "diskutiert" wie eh und je, während unser allzu westlich gewordenes Deutsch immer mehr dem Unfug der Verfremdung erliegt. Man diskutiert im übrigen viel und gern in Orawitza, und wenn ein deutsch begonnenes Gespräch spontan auch ungarische und rumänische Begriffe einbezieht, so sind das nicht Fremdwörter, weil im Banat ja alle drei Sprachen beheimatet sind. Wie die vier Glaubens-bekenntnisse, denn hier wurde ökumenisch gelebt, lange bevor dieser Begriff von den Amtskirchen der großen Welt in dem Bemühen um gegenseitiges Verständnis offiziell eingeführt wurde.

In der katholischen Kirche gab`s keine Kerzen mehr für die Ostertage? Da brachte der Protopop eine Kiste voll „lumânãri"; ein Lichtträger im schönsten Sinn des Wortes! Und als wir einmal Freunden aus Bukarest die wunderschöne rumänische Kirche zeigen wollten (übrigens als Beispiel für einen Biedermeierstil wie im alten Österreich!) und dort gerade Gottesdienst war, wurden wir vom Pfarrer begrüßt und auf die Ehrenplätze gebeten, - wie ja auch in „unserer" Kirche die Würdenträger der orthodoxen Kirchen besondere Wertschätzung erfahren. Bei den Osterzeremonien etwa - wie schön sind sie in Orawitza! Wie da alle zusammen helfen, vom Pfarrer bis zum Kinderchor mit der Kantorin (unserer lieben Sonny sei hier ganz besonders gedankt!), damit die alten Lieder in der schon von den ersten Siedlern erbauten Kirche erklingen und auch die Passion, die vor etwa 100 Jahren hier komponiert wurde und ohne die es keine Karwoche in Orawitza gibt (wobei, wenn Not am Mann ist, auch der rumänische Pfarrer einspringt und die deutsche Passion singt) - das hat mich immer wieder beeindruckt. Ebenso auch die Wallfahrten zur „Kreuzwiese" (mit der kleinen Kapelle der Bergleute) und zum lieben, idyllisch gelegenen Kirchlein von Maria-Tschiklova der kleineren, aber nicht weniger herzlich verehrten Schwester von Maria-Radna - oder der Friedhof, wo deutsche, ungarische und rumänische Namen auf den alten Grabsteinen stehen, steil den Hang hinauf, bis man von oben das ganze Städtchen sieht, wie es sich langgestreckt zu den Bergen hin entwickelt hat.

„Berghauptmannschaft" liest man auf einem alten Stich aus Orawitza, der bei uns in Innsbruck neben dem Klavier hängt, auf dem oft die Lieder eines Mannes erklungen sind, den ich aufrichtig verehrt habe und an den hier erinnert werden soll: Dr. Franz Klima. Arzt war er und Künstler zugleich - und ein zutiefst in dieser Welt des alten Orawitza verwurzelter Mensch, der Gedichte in allen drei Sprachen schrieb, der übersetzte (sogar aus dem Zigeunerischen, das er sich selbst angeeignet hatte) - und der Lieder komponierte, die volkstümlich im besten Sinne des Wortes sind (sogar Jodler gibt`s darin!) und gleichzeitig tief empfundene, wunderschöne Musik. Wem seine „Rauhnacht" oder „`s is` Kirweih heint" nicht ans Herz greifen, ob er nun aus Orawitza stammt oder aus der weiten Welt des alten Österreich, dem ist nicht zu helfen...

Mit Dr. Klima sind wir schon beim ersten Besuch zum Kalcher-Garten gewandert, zum Schützengarten und nach Tschi-klova; andere Freunde haben uns nach Saska geführt (auch dort eine liebe alte Bergmannskirche), nach Steierdorf (wo man sich ganz heimatlich „stoansteirisch" fühlen kann) oder zur Einsiedelei der „Cãlugãra" im Gebirge. Wir waren oben in Marilla - und unten an der Donau, fuhren mit dem Schiff durch die gewaltige Landschaft des Kazan-Passes und besuchten zuerst das alte, dann ja leider versunkene Orschowa und später das neue, wo Architekt Fackelmann die moderne Kirche gebaut hat, die vom Geist wie von der gestalteten Form her ein großes Kunstwerk ist. „Diskutiert" haben wir dann auch dort - im Pfarrhaus, beim besten Gänsebraten, den wir je aßen (Essen gehört zur Kultur, und von Krautfleckerln bis zur Dobostorte ist der k.u.k. Speisezettel der Wiener Küche dort vielleicht sogar lebendiger geblieben als hier im Ursprungsland).

Zurück ins „höhere" Orawitza! Dort steht, neuestens von einer Gedenktafel (in rumänisdher und deutscher Sprache!) gekennzeichnet und schön renoviert, das Haus, in dem Kaiser Franz I. nächtigte, als er zur Eröffnung des neu erbauten Theaters nach Orawitza kam, das den Wiener Bühnen des 18.Jahrhunderts nachempfunden war; es bot die Möglichkeit zu Opern- und Theateraufführungen mit Gästen aus Temeswar, Siebenbürgen und selbst aus Wien - und wartet mit seinem kleinen Museum auf die heutigen Besucher... Daß hier einst der große Eminescu in den kleinen Souffleurkasten (es gibt ihn noch!) kriechen mußte, um seinen Geldbeutel zu füllen, gehört zur liebevoll gepflegten Lokalgeschichte.

Unsere Familie hat der Orawitzaer „Welt von gestern", aber auch von heute viele schöne Erinnerungen zu danken. Wir haben hier von Menschen, die manchmal bitter arm waren, die sprichwörtliche Gastfreundschaft des Ostens erfahren, die in unserer westlichen Wohlstandsgesellschaft leider sehr viel seltener geworden ist und die im Banat trotz vieler nach wie vor bestehender Probleme des Alltags beneidenswert selbstverständlich und mit großer Herzlichkeit geübt wird. Unvergeßlich bleibt, wie unsere Silberhochzeit in Orawitza gefeiert wurde: in der mit Girlanden geschmückten Kirche die Messe - mit unserem Freund Paul Lackner als Haupt-zelebrant, mit den in Lederhosen und Dirndlkleidern versammelten Kindern, die Gedichte aufsagten und den silbernen Ährenstrauß brachten (auch den gibt es noch!) - und dann, unserer Bitte entsprechend, einem Lagerfeuer mit Kukuruzbra-ten im Garten der lieben Botos Tery auf dem Kirchenberg, wo wir alle gemeinsam unsere alten Volkslieder sangen. Wobei, wir müssen`s gestehen, unsere Gastgeberin bei manchen Liedern zehn Strophen und mehr auswendig wußte, während wir früher oder später nicht mehr mit dem Text mithalten konnten...

„Man muß den Osten kennen, mon Dieu!" entgegnete einst Prinz Eugen zornig seinem Kaiser in Wien, um ihn von der Notwendigkeit größerer Hilfeleistung zu überzeugen. Lassen wir dieses Wort auch heute gelten, - der Osten braucht`s noch immer!